Ich bin 1983 in der Deutschen Demokratischen Republik geboren – in einem Gebiet, das heute zur Niederlausitz gehört. Ich war nie Pionier. In meiner Erinnerung gab es immer Bananen. Trotzdem bin ich auf besondere Weise sozialisiert. Denn um mich herum waren sie alle geprägt von dem, was heute vor 70 Jahren gegründet wurde und am 9. November 1989 zu Ende ging. 40 Jahre DDR gingen auch an mir nicht spurlos vorüber.

Und manchmal gibt es Situationen, da wächst in mir der Drang, einfach jemanden anzuschreien. Alles herauszulassen, die ganze aufgestaute Wut. Immer dann, wenn Menschen, die DDR wahlweise schönreden wollen oder andersherum, sie das Land und die Menschen abwerten wollen. Es klingt schizophren, aber tatsächlich ist es das überhaupt nicht. Du kannst dir die DDR nicht schönreden, schönsaufen oder sie schöner machen als sie war. Es war nicht alles schlimm, aber es war so schlimm, dass es einfach zu Ende gehen musste.

Unrecht damals

In meiner Familie war keiner in einem Widerstand oder irgendwie besonders aufmüpfig. Niemand in meiner Familie hat an irgendeiner Demonstration teilgenommen. Trotzdem kenne ich inzwischen viele Geschichten über das Unrecht, die mich aufgerüttelt haben. Schon vorher war meine Meinung so, dass ich von einem Unrecht wusste. Aber gleichzeitig wurde ich damit groß, dass es einfach Menschen gab, die man meiden sollte, weil sie wahrscheinlich bei der Stasi waren. Für mich hatten sich die Menschen damit arrangiert. Ich wusste nur nie zu welchem Preis.

An dieser Stelle möchte ich jeden Menschen ermuntern, mit seiner Familie über die Vergangenheit zu sprechen. Zeitzeugen aus bewegten Zeiten zu kennen, ist unschätzbar wertvoll. Aus meiner Erfahrung erzählt selten jemand von selbst. Aber dann doch gern – auch dann, wenn es wehtut.

Unrecht heute

Nach der Wende wäre eine gute Gelegenheit gewesen, um vieles davon aufzuarbeiten. Und tatsächlich gab es viel Bewegung. Nur nicht in die richtige Richtung. Statt einer Wiedervereinigung kam es zu einem Anschluss. Die Treuhand wickelte die ostdeutsche Industrie ab. Und die Westdeutschen konnten den Ostdeutschen endlich ins Gesicht sagen, was ihnen auf der Zunge brannte: „Ihr seid faul, ihr seid dumm, ihr kostet uns nur Geld.“ – und bis heute gibt es diesen Gedanken in vielen Köpfen.

Ich durfte mir das erst vor kurzem wieder anhören. Nicht an mich direkt gerichtet – meine Herkunft kannten die Herrschaften nicht, die übrigens auch jünger waren als ich. Aber über die Menschen, um sie herum. Doch das ist eine andere Geschichte.

In den Neunzigern herrschte eine große Arbeitslosigkeit von offiziell rund 30 Prozent. Natürlich nur, weil die Menschen nicht arbeiten wollten und nicht, weil es keine Arbeit gab. Oder sie nicht mit der Familie umziehen wollten, obwohl sie doch im rückständigen Osten nichts mehr hielt. Letzteres war ja auch nicht erwünscht – und dort wo Ostdeutsche hinkamen, lernten sie schnell, ihre Identität zu verbergen. Zwei der drei Botschaften sind übrigens ironisch gemeint. Es soll ja Menschen geben, die das nicht verstehen.

Es war nicht alles schlecht

Wenn dir permanent erzählt wird, dass dein Leben falsch und alles schlecht war, aber du ganz andere Erlebnisse damit verbindest, führt das zu einem Widerspruch. Manches aus dem Osten ist inzwischen auch im Westen populär. Aus dieser Erfahrung folgte eine Verklärung, eine Ostalgie. Und der grässliche Satz: „Es war ja nicht alles schlecht.“

Meine Mutter sagt heute noch gern: „Früher durften wir nicht verreisen, heute können wir es uns nicht leisten.“ – Ich hasse diesen Spruch, weil ich schon früh erkannt habe, welchen Wert die Freiheit hat. Und doch konnte ich nie so richtig widersprechen, weil es eben irgendwie auch stimmt.

Propaganda

Der Westen hat den Osten gedemütigt und er tut es heute bewusst oder unbewusst immer noch. Jede Diskussion darüber, was nun alles Unrecht war und jede Diskussion, die nur aus einem politischen Kalkül, aber nicht aus ernsthaften Interesse geführt wird, widert mich einfach an. Die DDR einfach so, ganz ohne Differenzierung, als Unrechtsstaat zu bezeichnen, sie mit dem Nationalsozialismus auf eine Stufe zu stellen, widert mich an. Paul Ziemiak, Generalsekretär der CDU, widert mich an.

Auch unter Juristen ist umstritten, inwieweit die DDR als Unrechtsstaat bezeichnet werden könne. Horst Sendler vertritt die Ansicht, die DDR sei „im Kern ein Unrechtsstaat“ gewesen, weil die Gesetze „nur Versatzstücke“ gewesen seien, die „bei Bedarf beiseitegeschoben werden“ konnten, wenn sie „der Staatsführung […] oder sonstigen zur Entscheidung befugten Organen“ nicht passten; die DDR habe „drastisch-salopp“ gesagt „aufs Recht gepfiffen“. Demgegenüber meint Ingo Müller, dass genauso wenig der Unrechtsstaat an sich existiere wie ein Staat, der sich ein für alle Mal den Ehrentitel „Rechtsstaat“ erworben habe, sodass die einzelnen stattgefundenen Unrechtsakte jeweils für sich bewertet werden müssten. Volkmar Schöneburg plädiert dafür, die Rechtsnormen sowohl im NS-Staat als auch in der DDR genau zu analysieren und nicht einfach durch die Kategorie „Unrechtsstaat“ zu ersetzen. Eine Gleichsetzung von DDR und NS-Regime mit dem Begriff des Unrechtsstaats sei außerdem falsch, da sich dabei die Gefahr einer Verharmlosung der Naziherrschaft aufdränge, die ganz andere Dimensionen des Unrechts erreichte.

Quelle: Wikipedia

Ich würde ihn jetzt wirklich gern anschreien, bei all den Gefühlen, die Paul Ziemiak mit seiner Aussage in mir auslöst. Ich weiß sogar, was ich alles sagen darf und was für einen Menschen scheinbar aushaltbar sein muss. Aber gleichzeitig weiß ich, dass das überhaupt gar nichts bringt. Ich bin pragmatisch. Ich bin Wendekind. Ich muss niemanden anschreien. Ich schreibe diesen Beitrag in diesem Blog und hoffe wie auch andere, dass er seinen Teil dazu beiträgt, dass sich Ost und West annähern und nicht weiter entfernen.

In der DDR wäre das nicht möglich gewesen. Nicht ohne Folgen.

Ergänzung: Eine Diskussion darüber, ob die DDR ein Unrechtsstaat gewesen ist, lehne ich nicht ab. Ich halte sie sogar für wichtig – zu wichtig, um damit Wahlkampf zu machen. Und es ist besonders scheinheilig von der CDU, wenn ihre Block-Rolle in Ost und West einbezogen wird, die bis heute nicht vollständig aufgearbeitet wurde.

Bildquelle: Titelbild von Merit Schambach (CC-BY-SA-3.0)

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