Das wichtigste Thema in Berlin derzeit ist weder der Flughafen, noch Greta Thunberg, sondern soziale Gerechtigkeit, eng verbunden mit bezahlbaren Wohnraum. Es gibt kaum ein Gespräch, dass sich nicht irgendwann darum dreht. Alles fragt sich: Wem gehört eigentlich die Stadt? Christiane Rösinger will nicht länger nur am Rand stehen und zuschauen. Sie will mitgestalten, so lange es noch die Möglichkeit dazu gibt. Das Recht auf Leben ist im Musical synonym für ein Recht auf Wohnen zu verstehen. Und das sieht Rösinger akut bedroht. „Stadt unter Einfluss – Ein Musical zur Wohnungsfrage“ im HAU (Hebbel am Ufer) ist wahrscheinlich auch deswegen so geworden, wie es eben ist: Keine bloße Bestandsaufnahme der Situation, sondern ein Aufruf zum Protest – inklusive Anleitung zum Selbermachen.
Wir sind am Ende uns’rer Geduld
Auf dem Album „Lieder ohne Leiden“ sang Christiane Rösinger bereits von der Wohnungsnot und postulierte ironisch den möglichen Ausweg in Form einer „Eigentumswohnung“. Der Song war der Ausgangspunkt für das Musical, das am 26. September 2019 im HAU seine Premiere feierte. In dem aufgeführten Stück verarbeitete Christiane Rösinger beispielsweise auch den Britta-Klassiker „Wer wird Millionär„, in dem sie 2006 schon fragte: „Ist das noch Bohème oder schon die Unterschicht.“ Im Jahr 2019 wiederum wird die Frage aufgeworfen, ob man schon asozial sei, wenn man die 200.000 Euro für die Eigentumswohnung nicht aufbringen könne.
Seit Jahren beschäftigen sich Menschen mit der Frage, wer denn nun verantwortlich sei für die Misere. Auch im Musical fehlt der Verweis auf den Hipster, Heuschrecken und Touristen nicht. Am Verkaufsstand mit Weizengras-Kurkuma-Smoothies und Coldbrew-Energy-Revolution-Kaffee plaudert man über die Probleme und besingt die eigene Scham wegen des Hasses auf Touristen, während im Hintergrund schon Investoren den Rauswurf der Mieter*innen mit Hilfe einer Eigenbedarfskündigung vorbereiten. Eine wirkliche Antwort darauf, wer nun die Schuld trägt, gibt das Musical nicht. Es streiten sich „Ertragslücke“ und „Gentrifizierung“, aber letztere sei nur Symptom und erstere wird vom globalen Finanzsystem verlacht. Eines aber machen die Songs deutlich: Niemand sollte sich zum Opfer machen, sondern kämpfen gegen die Verdrängung.
Frauen an der Macht
Christiane Rösinger ist eine ungewöhnliche Frau. Ihre Präsenz entsteht vor allem durch ihre Haltung, die leicht mit Dauernörgeln und Desinteresse verwechselt werden kann. Sie hat sich schon lange vor Großstadtgeflüster und Deichkind aus der Leistungsgesellschaft verabschiedet. Und ihr geringes Interesse an Menschen, insbesondere Männern, vertonte sie bereits bei den Lassie Singers und Britta melancholisch-heiter. Und auch solo fand sie immer die richtigen Worte für diese Lustlosigkeit, die nie böse gemeint war. Das Wort Liebe nimmt sie bis heute ungern in den Mund. Wohl aber nicht, weil sie abschätzig darüber denkt, sondern weil der Rest der Welt es tut.
Auch im Musical macht Christiane Rösinger zum Teil einen sehr gelangweilten Eindruck. Es scheint fast so, als wäre ihr diese ganze Show zu wider. Und vielleicht steckt sogar doch ein Funken Wahrheit in diesem Gefühl. Aber allen inneren Widerständen zum Trotz hat sie dieses Musical auf die Beine gestellt und besingt die Vertreibung des globalen Finanzsystems – weiblich, Teil der Babyboomer-Generation und aus Baden-Württemberg kommend. Wer hätte das gedacht? Christiane Rösinger ist das Beste, was Berlin passieren konnte. Sie ist der vermeintliche Widerspruch, den es braucht, um sich diesem Wahnsinn entgegenzustellen – zusammen mit anderen starken Frauen.
Was mich persönlich sehr gefreut hat, war ein Wiedersehen mit Andreas Spechtl von der Band „Ja, Panik„. Bandmitglied Laura Landergott war ebenfalls auf der Bühne und unter anderem erzählen beide träumerisch die Geschichte vom „Roten Wien“ – eine Zeit, in der die Weichen für das heutige Wie gestellt wurden.
Die Rückkehr der Stresser
Christiane Rösinger ist ein sehr gutes Beispiel dafür, was passiert, wenn nichts passiert. Eine Frau, die eigentlich viel lieber so vor sich hin lebt und mit sich selbst beschäftigt ist – ohne das despektierlich zu meinen – schreibt ein Musical, um nicht nur sich, sondern auch andere zu bewegen. Heute Musical, morgen Klassenkampf? Null Bock, aber wenn sich keiner kümmert, müssen wir eben doch selbst ran. Dazu eingestreut Anlaufstellen und praktische Empfehlungen zum Handeln. „Mieter*innen stressen zurück“ heißt es gegen Ende. Ein bunter, gebastalter Drache, symbolisch für den Protestzug, treibt das Kapital aus – ganz ohne Voodoo. Die Investoren verkriechen sich in das Loch, aus dem sie gekommen sind. (Mieten)-Deckel rauf und fertig ist der Lack!
„Stadt unter Einfluss – Ein Musical zur Wohnungsfrage“ ist vielleicht keine große Kunst, aber dafür mitreißend. Berlin wehrt sich: „Allein kommst du nicht weit. Die Straße ist der Ort und das ist unsere Zeit.“ Es geht um Solidarität und Zusammenhalt. Oder eben moderner ausgedrückt: „Community-Togetherness„. Berlin bleibt Risiko-Kapital. Und durch die schnörkellose Sprache erreicht Christiane Rösinger ein breites Publikum. Und wer teilt sie nicht die klare und leicht verständliche Botschaft: Berlin gehört allen. Hol dir deine Stadt zurück!
Demo: Richtig Deckeln, dann enteignen
Unter dem Motto „Richtig Deckeln, dann enteignen – Rote Karte für Spekulation“ ruft das Bündnis „Gemeinsam gegen Verdrängung und Mietenwahnsinn / Deutsche Wohnen & Co. enteignen!“ am 3. Oktober 2019 in Berlin zur Demonstration auf. Unter anderem wird der Senat dazu auffordert, den Mietendeckel wie geplant umzusetzen. Start ist 13 Uhr am Haus der Lehrers am Alexanderplatz. Mehr Informationen gibt es auf der Website, bei Facebook und in dem Youtube-Video.
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Kommentare von Martin