In Berlin fühlt es sich manchmal so an, als gibt es einen Ausgehzwang. Party, Party, bis zum Untergang. Daraus resultiert eine gewisse Vergnügungssucht vor allem unter Neuankömmlingen. Wer es aus seiner beschaulichen Heimat gewohnt war, dass es pro Monat eine oder vielleicht zwei große Parties gab, der kann das hier jedes Wochenende haben, im Grunde sogar jeden Tag. Diese Stadt schläft nie. Doch es ist fatal, wer glaubt, es ihr gleichtun zu müssen.
Natürlich finde ich fantastisch, dass es hier ein so großes Angebot gibt. Als ich vor 15 Jahren in einer Blüte meines Lebens nach Berlin kam, gab es manchmal jeden Tag in der Woche eine tolle, queere Indie-Party – Rock out with your Cock out, Ackerkeller, Berlin Hilton, Rattenbar, Subworxx, London Calling, PopPourri, Neon Raiders und viele andere. Es gab in dieser Feiergesellschaft oft die gleichen bekannten Gesichter und dadurch eine gewisse familiäre Vertrautheit. Manche kenne ich noch heute. Einige beleben inzwischen selbst das Nachtleben. Ein paar vermisse ich schmerzlich.
Ich weiß, dass sich andere fragen, ob sie am Freitag oder am Samstag ausgehen. Für mich gab es diese Frage nie. Ich war immer gern nachts unterwegs, wenn es einen guten Grund dafür gab. Und in Berlin gibt es bis heute viele gute Gründe. Ich würde auch nicht sagen, dass ich Angst hatte, etwas zu verpassen. Zwar gebe ich zu, mir fehlt vielleicht noch immer die Gelassenheit von Menschen, die hier geboren wurden und mit diesem Überfluss groß geworden sind. Aber ich musste nie überall dabei sein. Ich finde einfach gute Musik und das Zusammenkommen mit unterschiedlichsten Menschen reizvoll.
Feiern ist in dieser Stadt keine Freizeit
Dazu kommt, dass das Ausgehen in Berlin nicht nur Tanzen und Feiern bedeutet. Eine Party kann gleichzeitig eine Insel sein, die zeigt, wie eine andere, eine bessere Welt funktioniert. Sie ist Plattform für Diskussionen und interessante Perspektiven. Sie zeigt dir Seiten an dir, die du noch nicht kanntest. Sie lässt dich neue Ufer entdecken. Zu Hause vor dem Fernseher kann ich mir eine Dokumention über Kolumbien anschauen oder in einer Bar mit einem Kolumbianer über seine Erfahrungen sprechen. Manche zahlen viel Geld für spezielle Kurse, um ihren Horizont zu erweitern. Ich gehe lieber nachts auf Safari. Und es gibt eben Leute, die gehen ins Fitness-Studio – mein Workout findet auf der Tanzfläche statt.
Ausgehen ist auch wirklich keine Frage des Alters oder des Hängenbleibens. Ich höre doch nicht auf, mich für die Welt um mich herum zu interessieren, nur weil ich älter werde. Manchmal habe ich eher den Eindruck, als würden Menschen das Ausgehen lediglich verlernen. Vielleicht auch weil sie nicht die richtigen Angebote finden. Ich vergleiche das gern mit dem Hören von Musik. In dem Moment, in dem ich mich weniger dafür interessiere, verliere ich den Zugang. Irgendwann höre ich nur noch die Algorithmus-Empfehlungen auf Spotify, später die Toten Hosen und dann bald gar nichts mehr.
In Würde altern statt verweckeln
Nun ist Berlin auch die Stadt, in dem es dir auch mit 50 oder 60 einfach gemacht wird, einen gewissen Lebensstil zu pflegen. In Clubs wie dem Berghain spielt Alter sowieso eine untergeordnete Rolle. Und mit den Jahren und Erfahrungen kommt eine gewisse Entspannung dazu, die das Ausgehen ganz anders erleben lässt als mit Anfang 20. Es geht eben nicht um Exzess, sondern um Genuss – nicht um Quantität, sondern um Qualität. Das sind Erkenntnisse, die sich bei mir auch in anderen Lebensbereichen durchsetzen. Man wird halt reifer.
Aus dem Grund ändert sich vielleicht doch etwas. Mein Fokus in der Art der Unterhaltung ist heute etwas anders. In dieser Woche war ich im Musical von Christiane Rösinger, beim Konzert von Jon Campbell, bei zwei 50. Geburtstagen, in dem krassen Film Systemsprenger und nur auf einer Party. Blinky Holes war dafür besonders wild – ein 90er-Jahre-Trash-Pop-Rave mit Menschen, die erst in den 90ern geboren wurden. Am Ende war das alles zusammen tatsächlich ein bisschen Freizeitstress. Das Aufsaugen von Kultur und das Zusammenkommen mit Menschen macht ihn allerdings sehr erträglich.
Keine Party ist auch keine Lösung
Zusammenfassend bleibt natürlich zu sagen, dass das ganze Leben nicht nur aus Party bestehen kann. Die Dosis macht das Gift. Enthaltsamkeit allein macht genauso wenig glücklich wie Rastlosigkeit. Und ich hoffe, dass ich immer die richtige Balance dafür finden werde.
Kommentare von Martin